Maryam Palizban: „Von zerrissenen Körpern | از بدنهای متلاشی شده“
Die Mutter aller Kriege
Ein Krieg, zu leben.
Ein Krieg, zu sterben.
Wir sind alle Kinder des Krieges
und unsere Kinder sind
unsere Zeugen.
Diese Ewigkeit
aus dem Fleisch auskratzen.
Das Muttermal los zu werden.
und das Kind bleibt das Kind
und die Mutter ans Bett gefesselt.
Milch ist sauber
Blut ist rein
– wird die Mutter sich je erholen? –
die langen Nächte
Kriege des Rein-drückens
Runter-schluckens
und Nicht-rauslassens.
Kriege des Nichts-
aus dem Nichts gekommenes
reingewaschenes Nichts!
– mir wirst du nichts antun können!
Ich bin älter als du!
Länger
bin ich wach geblieben!
Nächte
habe ich auf dich gewartet.
Du bist nicht mein Kind!
Mein Blut ist rot geblieben
dieses Tödliche Weiß
– aus der Milch die du kennst –
ist mir fremd!
Unbekannt wie deine Tränen!
Wie deine Wunde!
Mir ist nur mein Blut geblieben.
Die Krönung
In den Armen eines Vaters
zerrissene
in Blut getauchte Hände
überdauert die Leiche eines Kindes
Vom Vater
vom König
ein Junge der Mädchen war
eine Mädchen das Junge war
Ihre Haare
schulterlang
auf dem zerrissenen Gesicht des Königs
Ihre Tränen
Ihre Schreie
von einem Turm
gebaut am Ozean
Blut
tropfend
fließend
auf die Treppen
bis in die Gassen einer Stadt
die schrie
mit Schwert
mit Zähnen
zerriss sie die Körper
zerfetzte die Scham
Ein Mädchen
das Junge war
in den Armen
eines Vaters
der ohne Frau
ohne Mutter
Aus der Schafe Brüste
trinkt sie
den Samen ihres Vaters
An der Leiche
des zerrissenen Körpers
klagte sie
als die Männer
hereinstürmten
wie Bienen
in das Nest des Wahnsinns
Die Männer
suchend
fanden ein Körperteil
Heil geblieben nach seinem Tod
Sie schauten hin
fassten an
zwei Hände
zwei Beine
Kopf und Gesicht
Auge und Ohr
Die Vaterreste wurden entsorgt
Der Sohn blieb übrig
Wasser wurde gegossen
getauft
als der Junge
der Mädchen war
schrie:
Ah!
berührt nicht
meinen Körper
fasst nicht an
meine vierzehnjährigen Brüste!
Ein Mann von den Männern
mit Augen grau
der Atem kalt
Wolfshaut
auf dem Leib
trat vor
nahm den Jungen
der Mädchen war
heftete seinen Blick auf Ihre Augen
Schrie:
Dieser ist der neue König!
Feuer
Schreien Sie
Feuer
Unser König ist da!
Der Junge
der ein Mädchen war
wurde gewaschen
vom Blut
dass keine Frau aus dem Mädchen wird
dem kein Blut aus seinem Unterleib fließt
ein Spalt
unter dem Nabel
genäht und gemauert
unsichtbar
Der Junge
der Mädchen war
Die Krone seines Vater
geschnitzt
aus seinem Kopf
auf dem Kopf
des Sohnes
Blut seines Vaters
fließt auf sein Gesicht
Der Mann mit den grauen Augen
hob den Jungen hoch
seine Hände
bemerkten nicht
die Brüste des Mädchens
Der Mann
hob den jungen König hoch
auf den Turm und schrie:
Hier ist unser König!
Und das Mädchen wurde
in seinen Händen zur Frau
Auf drei Wellen
…
Drei Männer
auf dem Sand
neben einander
spazieren.
Drei Männer
aus dem Meer
kommen heraus
neben mich
legen sie sich
auf den Sand.
Drei Männer
auf eine Welle
legen sie sich
und mit dem Kopf
schlagen sie
auf meine Beine.
Drei Männer
auf drei Männern
auf drei Wellen
einer sitzt auf dem Stein
einer sitzt unterm Regen
Drei Männer
auf drei Männern
auf drei Wellen
Drei Männer
auf drei Männern
auf drei Wellen
einer nass
einer Stein
einer Frau
Frau auf Mann
Mann auf Frau
alle drei
Stein.
Das Gedicht Die Krönung (hier das Original auf Farsi) erschien in zensierter und dadurch fragmentierter Form im Gedichtband Verwaiste Lücken حذفیات یتیم (Teheran: Payan Verlag, 2019, Grafik von Farhad Fozouni). Das Gedicht Auf drei Wellen (hier das Original auf Farsi) wurde aufgrund von Zensur bisher noch nicht veröffentlicht. Das Gedicht Die Mutter aller Kriege ist eine Neuerscheinung.
Maryam Palizban: geboren 1981 in Iran, ist Theaterwissenschaftlerin, Dichterin, Schauspielerin. Sie promovierte an der Freien Universität Berlin und dem Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) Berlin über „Figurationen des Märtyrers“ in der Ta’ziya, dem iranisch-schiitischen Theater-Ritual. Ihre Dissertation ist 2017 unter dem Titel „Performativität des Mordes“ im Kadmos Verlag erschienen. Im Iran ist sie als Filmschauspielerin durch Filme wie „Deep Breath“ (Internationale Filmfestspiele von Cannes, 2003) und „Lantouri“ (Berlinale, 2016) sowie als Dichterin bekannt geworden. Sie lehrte und spielte in Berlin und Teheran. Letztes Jahr beteiligte sie sich an den Protesten der Jina Revolution durch die Veröffentlichung eines Bildes ohne Kopftuch und engagiert sich seitdem in verschiedenen oppositionellen feministischen Netzwerken.