Gespräch Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus

Von November 2019 bis März 2020 fand die erste Ausgabe der Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus statt. In Essen, Dresden und Hamburg haben sich 20 Kritiker:innen aus ganz Deutschland mit den Möglichkeiten und Anforderungen an einen Journalismus auseinandergesetzt, der den vielfältigen Produktionen und Produktionsweisen zeitgenössischer Theaterformen gerecht wird. Hier sprechen die Organisator:innen Esther Boldt und Philipp Schulte mit zwei Teilnehmer:innen, der freien Autorin Theresa Luise Gindlstrasser und dem taz-Redakteur Jan-Paul Koopmann, über ihre Erfahrungen, Solidarität und die Zukunft der Kritik.

Esther Boldt
Warum habt Ihr Euch für eine Teilnahme an der Akademie beworben?

Jan-Paul Koopmann
Ich habe eigentlich nie Gelegenheit, mich außerhalb eines konkreten Auftrags mit Kolleg:innen über Texte auszutauschen, die nicht in einem aktuellen Produktionsfluss entstehen. Das Nachdenken und Diskutieren über Grundsätzliches kommt in meinem Arbeitsalltag einfach zu kurz.

Theresa Luise Gindlstrasser
Bei mir ist es ähnlich.

Esther Boldt
Wie habt Ihr die Akademie bis jetzt wahrgenommen, haben sich Eure Erwartungen erfüllt?

Theresa Luise Gindlstrasser
Die Auswahl der Teilnehmenden finde ich sehr stimmig, Kompliment an die Jury. Es kommen hier sehr unterschiedliche Personen zusammen, aus verschiedenen Altersgruppen und von verschiedenen Medien – wie Fernsehen, Radio oder Zeitung. Die Teilnehmer:innen haben dort auch verschiedene Positionen inne, etwa als Redakteur:in, Volontär:in oder freie:r Mitarbeiter:in. Das ist zum einen ausgewogen und zum anderen divers – die Themen gehen uns also nicht aus.

Jan-Paul Koopmann
Und trotzdem kriegen wir es immer hin, uns auf einer Ebene zu finden. Es ist, wie Du sagst, eine sehr diverse Gruppe, aber der gemeinsame Nenner ist unser aller Interesse an zeitgenössischen Formen, an zeitgenössischem Theater.

Philipp Schulte
Ich arbeite ja selbst nicht als Kritiker, aber wie ich das sehe, ist die Theaterkritik, wie das Schreiben generell, erstmal eine einsame Tätigkeit. Bestimmte Gespräche, und da will ich noch nicht einmal von Momenten der Solidarität sprechen, aber zumindest des Austausches, sind jenseits einer bestimmten medialen Struktur oder Hierarchie vielleicht ungewöhnlich. Kann man das so sagen?

Theresa Luise Gindlstrasser
Ja, ich finde auch, dass ein großer Unterschied besteht zwischen dem Schreiben auf der einen und der Kunst, dem Theater auf der anderen Seite, wo Gespräche, Austausch und Work-in-progress stets Teil der Arbeit sind. Die konzentrierten Besprechungen unserer Texte ohne Produktionsdruck, die wir bei der Akademie geführt haben, unterscheiden sie beispielsweise auch vom Theatertreffen-Blog, bei dem ich zwar viel gelernt habe, aber gleichzeitig immer damit beschäftigt war, Texte rauszuhauen.

Esther Boldt
Innerhalb von Redaktionen gibt es durchaus Austausch: Im besten Falle wird eine Diskussion über Sinn und Zweck eines Textes geführt, und man erhält auch eine Rückmeldung der betreuenden Redakteur:innen.

Jan-Paul Koopmann
Ja, aber das ist eine ganz andere Ebene. Gerade diese blattmacherischen Diskussionen führen wir natürlich jeden Tag in der Redaktion, das müssen wir auch, und wir sprechen über einzelne Texte, wenn es um das Redigieren geht. Aber in einer Redaktionskonferenz reden wir nicht über Grundsätzliches. Bei der Akademie hingegen eröffnet sich ein Raum, in dem über genau solche Leitfragen gesprochen werden kann: Was ist eigentlich zeitgenössisches Theater, welche Formen gibt es, welche Themen werden verhandelt? Und was bedeutet es, über Theater zu schreiben? Solche Debatten können in einer Redaktionskonferenz nicht geführt werden. Wann auch?

Theresa Luise Gindlstrasser
Die Vorentscheidung darüber, dass es eine Kritik wird, und was in einer Kritik vorkommen soll, ist ja immer schon getroffen. In der Akademie haben wir ja genau diesen Rahmen befragt und uns Texte auch vor dem Hintergrund angeschaut, dass sie ganz anders ausschauen könnten.

Jan-Paul Koopmann
Trotzdem ist das Format Kritik auch in der Akademie erstaunlich präsent geblieben. Zu Beginn haben wir nach anderen Textarten gesucht, aber letztlich haben wir viel mehr über Haltungen gesprochen und darüber, wie viel Programmatik ich eigentlich in eine Kritik aufnehme, die sich mit einer konkreten Produktion befasst. Da habe ich sehr viel mitgenommen und nachgedacht, auch beim Schreiben von Texten, die zwischen den Akademiewochenenden entstanden sind.

Philipp Schulte
Mich hat erstaunt, dass wir sehr intensiv über Texte reden. .Überlegungen, Ein-Satz-Kritiken im Netz zu versenden, sind viel weniger präsent als ich das am Anfang erwartet hatte. Es gibt schon eine Lust am Text, eine Lust an der intellektuellen, schriftlichen Auseinandersetzung mit dem Gesehenen.

Esther Boldt
Gibt es einen Moment in der Akademie, der Euch besonders in Erinnerung geblieben ist, den Ihr als besonders wahrgenommen habt?

Jan-Paul Koopmann
Nein, kein konkreter Moment, für mich war die Dichte besonders, in der wir gearbeitet haben, in der alle immer präsent waren. Du sitzt bis spät abends im Theater, und beim Frühstück geht die Diskussion schon weiter, und das nicht nur über Tage, sondern auch über mehrere Module. Das kenne ich aus anderen Arbeitszusammenhängen überhaupt nicht. Das habe ich als sehr besonders wahrgenommen. Und den sehr respektvollen Umgang: Man lehnt sich auch aus dem Fenster mit Entwürfen und halbfertigen Texten, aber ich habe mich hier nicht eine Sekunde unwohl gefühlt beim offenen Diskutieren über das von mir Geschriebene. Das ist alles andere als selbstverständlich.

Theresa Luise Gindlstrasser
Mir fallen 2 Dinge ein. Erstens: Aus Essen ist mir ein Gespräch am Rande darüber in Erinnerung geblieben, wo das Korrektiv sitzt. Ich glaube, dass diese Frage eine der drängendsten unserer Zeit ist – nicht nur in Bezug auf Kulturkritik, sondern auch ganz konkret politisch in unserer Demokratie. Und zweitens hat Lisa Lucassen vom Performancekollektiv She She Pop als geladene Expertin in Dresden gesagt: „Was, ihr glaubt, dass Kritik ein Dialog ist? Das habe ich ja noch nie gehört!“ Dieser Zusammenprall von Vorstellungen … das fand ich interessant!

Philipp Schulte
Seht Ihr einen konkreten Nutzen der Akademie über den ideellen Wert hinaus?

Theresa Luise Gindlstrasser
Ich finde, dass eine Solidarisierung stattgefunden hat oder ein Bewusstsein dafür geweckt wurde. Wenn ich will, dass das, was ich tue, als Angebot zum Dialog wahrgenommen werden soll, dann muss ich vielleicht mehr dafür tun.

Jan-Paul Koopmann
Dazu möchte ich ergänzen: Wir haben schon darüber gesprochen, dass in der Gruppe sehr verschiedene berufliche Hintergründe vertreten sind. Für mich neu ist die Zusammenarbeit mit Menschen, die Theaterwissenschaft studiert haben. Das hat mir sehr gutgetan und Lust gemacht, Theorie anders zu lesen, nicht nur in Bezug auf konkrete Fragen.

Esther Boldt
Was wünscht Ihr Euch für die Zukunft des Theaterjournalismus?

Jan-Paul Koopmann
Ich würde gerne mehr von Menschen lesen, die über Kultur nachdenken und bei uns in der Zeitung einen Theaterdiskurs führen, ohne ausgebildete Journalist*innen zu sein. Damit es neben den ausgebildeten Kritiker*innen, die es weiterhin braucht, auch andere Perspektiven gibt, andere Arten von Zuschauer*innen, die am öffentlichen Diskurs teilnehmen.
Wir Journalist*innen trainieren uns ja ein bestimmtes Handwerkszeug an, das uns in die Lage versetzt, quasi über alles zu schreiben. Damit fühle ich mich nicht immer wohl. Es wäre viel interessanter, Menschen zu hören, die vielleicht noch mal anders betroffen sind, gerade bei politischem Theater.

Theresa Luise Gindlstrasser
Es gibt so viel Ego, so viel Amazon, so viele Sternchen-Bewertungen. Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann wäre es, dass sich die Kritik entschleunigt. Nicht unbedingt in Bezug auf Produktionsabläufe, aber in Bezug auf Umgangsformen und Urteile. Dann wäre Kritik etwas im besten Sinne Altmodisches, Langsames, Tastendes, etwas, das nicht nur gegenüber dem Gegenstand kritisch bleibt, sondern auch gegenüber sich selbst.