Erinnerungsspuren und Reflexionsfragmente zu „TikTok – virales Theater“

von Jane Eschment

Ankommen

Während Menschen noch im Foyer des FFT Düsseldorf ankommen, laden Jugendliche zu kleinen Gesprächsinseln ein, um mit ihnen über TikTok, Tanz und Theater in den Austausch zu gehen. Ich denke an die Haltung der Programmmacherinnen Katja Grawinkel-Claassen (FFT Düsseldorf) und Lucie Ortmann (tanzhaus nrw), die mich zur Reflexion eingeladen und gesagt haben, dass sich niemand zu doof, zu unerfahren, zu alt fühlen soll, um hier dabei zu sein und begebe mich trotzdem mit einem kleinen Schamgefühl in eine erste Sofarunde. Mein TikTok Account ist drei Wochen alt, ich habe selbst genau 0 Videos hochgeladen. Ole Liebl führt in seinem späteren Talk zu „TikTok als intime Praxis“ aus, wie einladend die Möglichkeit ist „in 60 Sekunden-Videos mit Hochgeschwindigkeit ins Wesentliche abzuschweifen – Vorhang auf und rein damit“. Die Kompetenz, die sich darin zeigt, fasziniert mich. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass meine Wahrnehmung irgendwie (noch) zu langsam funktioniert. Fast erstaunt stelle ich in meiner Gesprächsrunde fest – ich, mit meinem Geburtsjahrgang in den 80ern, bin nicht die einzige Neu- oder Wiedereinsteigerin. Jüngere Menschen der Gen Z enttarnen ihre alltäglich gewordenen, leidenschaftlichen, ambivalenten, eingefrorenen TikTok-Beziehungen. Alle in der Runde sind mindestens bei Instagram. Hier geschieht ein niedrigschwelliges Onboarding und eine sanfte, intergenerationale Ausdehnung in der tanz- und theateraffinen Filterblase.

Was wir von Künstler*innen über TikTok als virales Theater lernen können? Ambivalente Bühnen zu bespielen

TikTok kann, wie die Medienwissenschaftlerin Martina Leeker es formuliert, als Welttheater digitaler Kulturen interpretiert werden, das aktuell von knapp 1,7 Milliarden Akteur*innen bespielt wird und gleichzeitig ein kapitalistisches, ressourcenfressendes Business ist. Den algorithmischen Deal mit Aufmerksamkeitsökonomie und Affektsteuerung betreiben rechte, antifeministische Akteur*innen besonders schnell und erfolgreich, wie mir der Workshop von onlinetheater.live eindringlich vor Augen führt. Demokratische Gesellschaften können es sich nicht leisten, die gewaltvollen Wirklichkeiten, die in TikToks Filterblasen angeheizt werden, einfach sich selbst, Konzerninteressen und rechten Akteur*innen zu überlassen. Wie also den Algorithmus austricksen und Sorge tragen, dass plurale Stimmen und Deutungsangebote dort sichtbar werden, wenn Plattformen selbst kein sorgendes Interesse hegen?

Die Lecture Performance von onlinetheater.live zum Projekt Myke legt die künstlerischen Strategien offen, mit denen das Kollektiv in TikToks misogynen, trans- und queerfeindlichen Filterblasen interveniert hat. Um der spezifischen Zielgruppe von jungen Männern, die sich in den Anfängen antifeministischer Radikalisierungsschleifen befinden, begegnen zu können, erarbeitet sich onlinetheater.live mimetisch Ästhetiken für Fakeprofile, um dann gezielt mit Abweichungen zu gängigen Profilen in der Manosphere zu spielen. Sie entwickeln Figuren und gute Hooks für Content mit Erzählungen zu empathischer, sensibler, verletzlicher Männlichkeit. Sie bespielen Kommentarspalten und nicht zuletzt über bezahlte Reichweite, gelingt es ihnen temporäre, fragile Beziehungen zu Personen einer Zielgruppe aufbauen, die der physische Theaterraum wohl nie erreicht hätte. Gleichzeitig bleibt die Frage, woher die Kraft kommen kann, sich diesen Echokammern für Hass und Menschenfeindlichkeit entgegenzustellen? Caspar Weimann beschreibt die kollektiven künstlerischen Strukturen und das theatrale Spiel mit Figuren als eine Art Schutzschicht und betont gleichzeitig, dass die Intensität, mit der Künstler*innen Social Media Plattformen als demokratierelevante Aushandlungsräume unserer Wirklichkeit kritisch befragend mitgestalten können, auch eine drängende Frage kulturpolitischer Entscheidungen sein wird.

Am nächsten Tag sitze ich im Workshop und folge der Einladung, den künstlerischen Ansatz von onlinetheater.live umfassender nachzuvollziehen. Ich erstelle mir selbst ein Fake-Profil und imaginiere einen stereotypen männlichen Charakter, der sich für Statussymbole und Fitness interessiert und sich von heteronormativen Männlichkeitsinszenierungen angezogen fühlt. Mit entsprechender Aufmerksamkeit betrachte ich passenden Content nur gefühlte Wimpernschläge länger als die Kurzvideos von Tierbabys und Rasenmähern, die mir zum Einstieg noch wahllos in den Feed gespült werden. Es dauert keine fünf Minuten, bis der Algorithmus mir eine Dauerschleife aus dicken Autos, Proteinshakes, aufgepumpten Muskeln in schwarz-weiß Ästhetik anbietet – und dann sehr schnell Military-Camp Angebote, rechtsextremen Parteiencontent und die ersten misogynen, trans- und queerfeindlichen Stimmen hineinmischt. Ich muss noch nicht mal liken, es genügt der algorithmischen Kuration, dass ich Millisekunden länger verweile, um einer antifeministischen Filterblase näher zu rücken. Mir schwirrt der Kopf. Ich denke über die emotionale Sorgearbeit nach, die der künstlerischen Intervention von onlinetheater.live innewohnt. Sie teilen und verweisen auf das strategisch wichtige Wissen, um die kapitalistischen Strukturen und das riesige Business hinter TikTok besser zu verstehen, um die eigene Handlungsmacht zu erkennen und widerständige Strategien für die Bespielung dieser Räume zu entwickeln. Ich ziehe die Verbindung zu Martina Leekers Perspektive in ihrem Text „Performing TikTok. Anleitungen für ‚versierte Spieler‘ im posthumanen Theater digitaler Kulturen“ (2024). Darin beschreibt sie, wie Künstler*innen als „versierte Spieler“ erfahrbar machen können, wie Performen auf TikTok immer schon digital-hybride Kulturen mitgeneriert, und zugleich nach Möglichkeiten suchen, zu intervenieren, und algorithmisch kuratierte Deutungsangebote durch subversives Spiel auszutricksen.

Alle reden über TikTok. Spotlights und zirkulierende Stimmen

Moaeed Shekhane, Gründer des Darb Attabana Jugendclubs (Kampnagel), regt in seinem Talk einen Privilegiencheck an. Kein physischer Theaterraum kann aktuell hinsichtlich seiner niedrigschwelligen Zugänglichkeit für eine junge Generation TikTok das Wasser reichen. Hier bietet sich eine weltweit bespielbare Probebühne für Performance – vorausgesetzt Smartphone, Wlan, mobile Daten sind vorhanden und TikTok ist nicht gesperrt. TikTok ist auch eine Plattform, wie Ole Liebl ausführt, für kollektive, solidarische Wissensproduktion, Bildungsformate und aktivistische Vernetzung. Brig Huezo verdeutlicht, wie Künstler*innen als Digital Drag selbstbestimmt normierte Vorstellungen und Bilder von Körpern, Bewegung und Genderperformance verflüssigen und in den postdigitalen Bedingungen unabgeschlossene, offene, posthumane Entwürfe als virtuelle Möglichkeiten erfinden, um in dieser Gesellschaft existieren zu können. Und Fanny Cybertron und Martina Leeker ringen in ihrem Beitrag weiter um die Bedeutung und Konsequenzen von TikTok als Welttheater und als „Trainingscamp for a posthuman condition“, wie Fanny Cybertron es beschreibt.

Bewegt, handlungsfähig und verletzlich bleiben

Als ich abends einen Platz auf der Bühne im tanzhaus nrw einnehme, um die Produktion a dance routine von senzenberger|rieck zu sehen, rückt durch die 360 Grad Anordnung der anwesenden Körper auf der Bühne, ein gleichzeitiges auf Andere blicken und den Blicken der Anderen ausgesetzt sein in den Fokus. Die eigenen nonverbalen, körperlichen Kommentierungen bekommen etwas Machtvolles, während Katharina Senzenberger und Miriam Rieck sich permanent in Beziehung setzen zum angeeigneten, verkörperten Wissen zeitgenössischer Internettänze aus dem TikTok-Archiv, Intimität und Machtpositionen zwischen sich und dem Publikum aushandeln. In ihrem fast ununterbrochenen Bewegungsflow entstehen in dieser Arbeit assoziative, flüchtige Gesten und Bilder, die sich über die verschiedenen Perspektiven des Veranstaltungstages legen: lustvoll performen, zitieren, verschieben, sich halten, sich aushalten, sich einengen, sich ausdehnen, abstoßen, auflösen, sich synchronisieren, sich mit Begeisterung anstecken lassen, sich kraftvoll verbinden, selbstbestimmt erfinden, nachahmen, sich infrage stellen, um dann wieder für Augenblicke extrem zu verlangsamen und darin den Blicken ausgesetzt eine fragile Verletzlichkeit sichtbar zu machen.

Nachdenkbewegung

Das komplexe Vermittlungsformat „TikTok – Virales Theater“ berührt durch Worte von Vielen und viele sorgende Gesten. In meiner Wahrnehmung breitet sich eine Atmosphäre aus, in der kritische Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten und Widersprüche in der Sache, zwischen den Anwesenden und auch in mir selbst ausgehalten werden und sich nicht auflösen müssen. Die verschiedenen Formate unterstützen den angeregten Austausch in und zwischen den Generationen, die in sich ja schon nur als diverse Gruppe existieren. Es wird gar nicht erst so getan, als gäbe es noch die Wahl einer kritisch-distanzierten Position in einem vermeintlich von Social Media unberührten Außen. Die Anerkennung eines radikalen Involviert-Seins in postdigitale Bedingungen lässt Begegnungsräume entstehen, in denen Ambiguität und Komplexität als Teil menschlicher und gesellschaftlicher Erfahrungswelten verhandelt, in Fragmenten ausgebreitet und in künstlerischen Strategien, diskursiv, Danceoke tanzend wie gemeinsam essend befragt werden kann. Um etwas davon in Nuancen anders zu verstehen und Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsräume in den künstlerischen Perspektiven, den Fragen und Antworten der Vielen zu TikTok als virales Theater auszudehnen.

Blick zurück ins hier und jetzt

Es ist Ende November 2024, als ich diese Reflexionsfragmente aufschreibe. Massive kultur- und sozialpolitische Haushaltskürzungen in Berlin, sowie in vielen weiteren Bundesländern, Kommunen und Städten, bedrohen mühsam aufgebaute Strukturen und Projekte, zivilgesellschaftliche Initiativen und soloselbstständige Künstler*innen, die sich für Diversität im Kultursektor, für eine inklusive Gesellschaft und eine wehrhafte Demokratie engagieren, existentiell. Das Wochenende mit der Veranstaltung „TikTok – Virales Theater“ liegt einen Monat zurück, die Stimmen im Eröffnungsimpuls der AG Kunst und Begegnung von Mina Mahmoudian (PACT Zollverein, Essen) und Stella Konstantinou (HAU Hebbel am Ufer, Berlin) klingen in meinen Ohren laut nach. Kurz und eindringlich war ihre Setzung: Vermittlung sei eine Form der Carearbeit. Welche Ressourcen und wessen Anerkennung fließen in Vermittlung, die immer wieder anders versucht zum Begegnungs-, Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsraum für eine plurale Gesellschaft zu werden? Die Vielgestaltigkeit der sorgenden Gesten und die Beziehungsarbeit, die es für diese Arbeit braucht, bleiben oft unsichtbar. Manche bemerken ihre Auswirkungen gar erst, wenn Vermittlung wegfällt und der Verlust dieser Räume und Praktiken eindringlich spürbar wird.