
Migrantpolitan
10 Jahre ankommen: Das Migrantpolitan Jubiläum
Im Aktionsraum für, von und mit Migrant*innen und Locals machen wir aus Aufenthaltsproblemen, kulturellen Missverständnissen und Alltagsrassismus Popkultur im Warhol’schen Sinne in Form von Videoserien, Mode und Live Arts. Und so ist im Migrantpolitan jede*r ein Star, jede*r ein*e Künstler*in und jede*r Migrant*in. Seit mittlerweile 10 Jahren lebt und arbeitet das Team im Temporären, im ewigen Heute und erträumt dabei ein gemeinsames Morgen. Im avantgardistischen Sinne verwischt das intersektionale Team die Grenzen zwischen Leben und Kunst, zwischen Problem und Lösung, zwischen Spekulation und Realität.
Wie feiert ein kollektiver Prozess das 10-jährige Jubiläum? Was ist eine angemessene Reaktion auf eine sich verschärfende Asylpolitik und eine Gesellschaft, der die Willkommenskultur abhanden gekommen ist? Vor diesen herausfordernden Fragen stand das Migrantpolitan-Team und bietet mit einem 2-tägigen Programm passende Antworten: Gekommen, um zu bleiben und „All Power to the Community“.
Programm:
Samstag, 3.5.2025
15 Uhr: Opening & Welcoming Speeches in engl. und dt. Sprache
15:30 Uhr: „Music makes the people come together….” Music, Concerts, Dub Ke-Workshop
Mit Live-Sets der WKR-Band (ja, die aus „Hello Deutschland“), Boy Division (ja, die bei „Ramadram“ mitgespielt haben, als Sondereinheit der Polizei), einer Jam Session (ja, mit Profis und Laien) und einem Outdoor- Dub Ke Workshop (genau der, der sonst bei Dub-Ke, Adventures in Arab Techno im Club gegeben wird)
17:30 Uhr: „Essen ist Politik auf dem Teller“ Barbecue Session / Frühlingsfest
Eine der Kernkompetenzen der Migrantpolitans beruht auf zwei der kulturenübergreifenden universalistischen Weisheiten: Liebe geht durch den Magen und Food is politics on a plate. Und so gehört zu jedem Fest auch gutes Essen. Und so wird gemeinsam gespeist und gechillt, während sich langsam glamouröse Spannung am „Red Carpet“ aufbaut.
20 Uhr: Collective Red Carpet Moments
Community Work ist eine tägliche Arbeit, die meistens sehr unglamourös abläuft. Und überhaupt hat jede Person, die eine heftige Flucht hinter sich hat oder Alltagsrassismus erleben muss, eine ordentliche Portion „Glampowerment“ verdient. Und deshalb rollen die Migrantpolitans den lila Teppich aus, um sich und andere Migrant*innen, solidarische Allies und stabile Community-Makers ins verdiente Scheinwerferlicht zu stellen und sich ein seelisches Bad in der Menge gönnen.
20:30 Uhr: Ceremony „Community Art Tribute”
Zum ersten Mal wird der „Community Art Tribut“ an herausragende Persönlichkeiten unterschiedlichster Hamburger Communities und natürlich die Stars und Celebrities der eigenen Bubble verliehen. Also an Menschen, die mit ihrer Kreativität, ihrem Engagement und ihrer gelebten Solidarität dazu beitragen, dass unsere Communities weit mehr als ein Netzwerk sind, sondern neue Zuhause zwischen den Zeilen der Geografie, im Dazwischen der Sprachen, im Räumen, den man nicht kartieren kann. Ein kreativer Raum inmitten einer repressiven Welt.
21:30 Uhr: Hools of Fashion: Fashion Intervention
Extravangza im Garten: in der Abenddämmerung verwandelt sich der Garten in einen richtigen Catwalk – nicht nur für den Migrantpolitan-Community-Kater Rama, sondern auch für das Hamburger Modekollektiv Hools of Fashion, das den Sundown mit der neuen Kollektion verschönert.
22 Uhr: Afterparty Wohnzimmer Style
Um das gute nachbarschaftliche Verhältnis nicht zu gefährden, ist ab 22:00 die Party draußen vorbei. In guter alter Speak-Easy-Manier wird der Rest der Party in Zimmerlautstärke inside Migrantpolitan weitergeführt.
Sonntag, 4.5.2025
13 Uhr: Kunst und Begegnung: „Feedback-Brunch” mit Dr. Azadeh Sharifi
Die Theaterwissenschaftlerin Dr. Azadeh Sharifi und das Migrantpolitan-Team laden zum Feedback-Brunch, um beim gemeinsamen Essen über Soziokultur, Community-Arbeit und Grenzregime zu diskutieren. Im Kontext des Moduls „Kunst und Begegnung“ des Bündnisses internationaler Produktionshäuser öffnet das Format einen kompetenten DIskursraum, der anhand konkreter künstlerischer Praxen alte Denkmuster herausfordert und neue Allianzen ermöglicht.
15 Uhr: Garden Drag-Tour with Dancing Sven
Die Community-Strebergärtnerin Dancing Sven betreut seit vielen Jahren erfolgreich den Migrantpolitan Garten und hat Dank grünen Daumens sowie jeder Menge Ausdauer und Hingabe das kleine Fleckchen Parkplatz in eine blühende Mini-Oase verwandelt. Bei der kleinen Erkundungstour kommen wir von Höckschen aufs Stöckchen und erfahren von Blume zu Blume mehr über Botanical Vogueing, Pflanzenmeditation, Himbeersträuche und Schneckenalarm Löwenzähne als queere, widerständige Praxis.
16 Uhr: Digital Time Travel mit Sirwan Ali
Im Migrantpolitan-Kosmos sind unterschiedliche experimentelle Kunstformen entstanden, mitunter hat sich die Gruppe „Agents of History“ in diesem Umfeld gegründet, die sich mit kolonialen und migrantischen Perspektiven beschäftigt. Die Agents nutzen digitale Medien und Technologien, um verdrängte Geschichten im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Ihre interaktiven Stadtrundgänge, Ausstellungen und Performances stärken das Bewusstsein für antikolonialen Widerstand und alternative Erinnerungskulturen, mit dem Ziel, Geschichte neu zu erzählen und eine kritische Reflexion anzuregen. Mastermind Siro gibt Einblicke in die bisherigen Projekte.
16:30 Uhr: 10 Years Refugee Radio Network
Nicht nur das Migrantpolitan feiert sein 10-jähriges Jubiläum. Auch das von Migrantpolitan-Mitbegründer Larry Macaulay gegründete „Refugee Radio Network“, das Geflüchteten eine Stimme verleiht, ging 2015 erstmalig on Air. Unzählige Sendungen, Auszeichnungen und Workshops später blickt El Capitan auf die Highlights und den Prozess seines erfolgreichen Projektes. Das Netzwerk hat nicht nur einen Raum für die Erfahrungen von Geflüchteten geschaffen, sondern auch eine Plattform für deren Geschichten und Perspektiven etabliert, die in den Mainstream-Medien oft unterrepräsentiert sind. Mit einer Vielzahl an Programmen, die sowohl in verschiedenen Sprachen als auch in unterschiedlichen Formaten produziert werden, hat das „Refugee Radio Network“ maßgeblich zur Sichtbarkeit und Anerkennung der Stimmen von Migrant*innen und Geflüchteten beigetragen.
17:30 Uhr: Concert: SirOne & Affirmation Workshop
Migrantpolitan Homie SirOne verbindet Melodien traditioneller kurdischer Instrumente mit den dynamischen Rhythmen elektronischer Musik. Im Mittelpunkt stehen Experimente und Innovationen mit Grooves und Sound. Im Anschluss an sein Konzert gibt SirOne einen kurzen Affirmation Workshop, Inshallah!
18 Uhr: Concert: Gondang Batak Group
Spätestens seit ihrem legendären Auftritt bei der Fanti-Parade 2023 ist das Musik-Kollektiv Gondang Batak Group Hamburg regelmäßiger Gast bei Migrantpolitan-Events. Die diasporische Gruppe pflegt die Musiktradition Indonesiens in Hamburg weiter. Mit ihren Interpretationen indonesischer Volksliedern aus verschiedenen Regionen spiegeln sie die vielfältige Musikkultur ihres Heimatlandes.
18:30/19 Uhr: Community Cooking Finals: Barbecue Special
Zum Abschluss des Jubiläums erwartet das Publikum ein kulinarisches Highlight! Das Community Cooking ist der Dauerbrenner der Migrantpolitan-Aktivitäten und die „Comp_Eat_ion“ , bei der 2 Teams kochen und das essende Publikum anschließend ein Gericht kürt, eine beliebte Gelegenheit, über den Tellerrand heraus zu gucken. In diesem Kochfinale treten die Sieger*innen der vorangegangenen Competitions gegeneinander am Barbeque-Grill an! Also soviel ist klar: das wird heiß!
Das Programm findet – auch wenn das Wetter nicht sooooo gut sein sollte – drinnen und draußen statt. Alle Veranstaltungen wie immer kostenlos. Drop by, in and out as you like! Sprachen: deutsch, englisch, arabisch
Zu Gast: Dr. Azadeh Sharifi
Dokumentation
10 Jahre Ankommen: Das Migrantpolitan Jubiläum
Was sind Bedingungen für rassifizierte, migrantisierte und illegaliserte Menschen, wenn sie sich in institutionalisierte Räume künstlerischen Schaffens begeben – als Künstler*innen, Kulturschaffende oder auch Zuschauende? Und wie verhalten sich Kulturinstitutionen, insbesondere Produktionshäuser, wenn sie mit rassifizierten, migrantisierten und illegalisierten Menschen zusammenarbeiten (wollen) – als Publika, als Künstler*innen und als Kulturschaffende? Wie sind die Bedingungen für Vermittlung und (post-)dramaturgische Arbeit, wenn diese nicht nur über das gemeinsame Verhandeln von inter- und transkulturellen Verständnissen von Kunst und Kultur geregelt werden, sondern auch durch Grenz- und Migrationsregime, die tief in das Zusammenkommen und -arbeiten einwirken und in diese formal und ästhetisch eingreifen? Was sind künstlerische Strategien und dramaturgische Mittel, um Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht zu reproduzieren, sondern diese bestenfalls auszuhebeln? Wie schaffen Kulturinstitutionen und ihre Repräsentant*innen es, machtkritische, diskriminierungssensible und nachhaltige Bedingungen für rassifizierte, migrantisierte und illegaliserte Menschen in der künstlerischen (Zusammen-)Arbeit herzustellen?
Das sind die grundsätzlichen Fragen, die mich vor und nach dem Jubiläum des Migrantpolitan bewegt und begleitet haben. Wohlwissend, dass Migrantpolitan mittlerweile das einzige Projekt mit und für geflüchtete Menschen in einer deutschen Kulturinstitution ist, das die „Willkommenskultur“ und die Welle der staatlichen Förderung überlebt hat und, trotz der diskursiven Verschiebung zeitgenössischer Interessen in der Kunst, an diesen ästhetischen Verhandlungsraum festhält.
Während des Jubiläums fanden zwei Tage lang auf unterschiedlichen Ebenen Begegnungen statt, die eine Bandbreite an (alltäglichen und dem Kunstraum explizit zugeordneten) Formaten des Zusammenkommens abbildeten. So rahmte ‚Essen und Nahrung‘ als eine essentielle gemeinschaftsstiftende (Alltags-)Praxis die Veranstaltung, die auch in diesen Zeiten, und im Zusammenhang mit Fortbestehen der kolonialen Matrix der Macht, eine politische Praxis darstellte (und/oder mir als solche eingeordnet wurde).
Eine wesentliche, Alltag und künstlerische Praxis verbindende Ebene, bildete das Verweilen, das ‚Rumhängen‘ an dem sich hinter Kampnagel befindenden Migrantpolitan. Das Häuschen mit Garten wurde ursprünglich vom Hamburger Kollektiv Baltic Raw als Nachbau der Roten Flora, als sogenannte EcoFavela, geschaffen. Ab 2015 ist es, zunächst nur temporär, zum designierten Ort für die Arbeit des Migrantpolitan geworden. Zwei Tage waren wir, Gäst*innen und Beteiligte, vor und im Migrantpolitan. Wir saßen, standen, tranken, aßen, tanzten, sahen und hörten zu. Das Programm erlaubte das Verweilen (‚Rumhängen‘) nicht nur, sondern evozierte es. Aus einer angewandten dramaturgischen Perspektive ging es nicht nur um ein vorgegebenes Programm, sondern auch um die Möglichkeit, miteinander ‚informell‘ (wie es in akademischen Kontexten heißen würde) in Kontakt zu treten, sich auszutauschen und vielleicht sogar zu diskutieren.
Den explizit künstlerischen Anteil der Veranstaltung bildeten eine Bandbreite performativer Formate, angefangen von einem Dabke-Workshop, der später dann in einer Jam-Session mit Musiker*innen fortgeführt wurde, ein ‚Community Art Tribune‘ und Fashion Show, eine Garden-Drag Tour sowie ein ‚Digital Time Travel‘ von Sirwan Ali, das eine Art digitale Reise durch die Entwicklung des Migrantpolitan darstellte.
Die ästhetische Erfahrung nahm zu, je involvierter die Gäst*innen und Zuschauenden waren und sich auf die immersiven performativen Formate einließen. Und da der Raum (das Migrantpolitan) und die Dramaturgie des Programmes den Gäst*innen und Beteiligten gestattete, sich auf die Veranstaltungen ganz einzulassen und/oder auch nur durch Anwesenheit (‚Rumhängen‘) involviert zu sein, hatten beide Tage einen Fest(ival)-Charakter und konnten als Theater-Spektakel erlebt/erfahren werden. Anas Aboura, der (zusammen mit anderen Beteiligten) als Host und Dramaturg durch das Programm führte, schaffte es, diese Atmosphäre zu transportieren, in der das Event zwischen einem Familien- und einem theatralen Fest oszillierte.
Der von mir gestaltete ‚Feedback-Brunch‘, der sich an die Arbeitsgruppe Kunst & Begegnungen wendete und offen für Interessierte war, widmete sich einer kritischen Reflexion rund um Kunst, Vermittlung und das einschreitende Migrations- und Grenzregime.
Es ging insbesondere um Sprache und Diskurse im künstlerischen Kontext, die Wirklichkeit herstellen und damit entweder Macht und Vorherrschaft reproduzieren oder diese unterbrechen, unterwandern und vielleicht sogar überwinden können. Das Migrantpolitan hat nicht ohne Grund nachhaltig und als einziges künstlerisches Projekt mit und für rassifizierte, migrantisierte und illegalisierte Menschen dieses Jubiläum feiern können. Nadine Jessen hat in ihrer Funktion als Dramaturgin und Mitbegründerin des Projektes aus der teilweise verunmöglichten Arbeit – Förderung, staatliche und polizeiliche Repressalien, etc. – berichten können und auf die innovative und interventionistische Aneignung von neo-liberalen und konservativen Strukturen, Sprache und Diskursen verwiesen, um das Überleben des Projektes zu garantieren. Auch wurde deutlich, dass das Migrantpolitan als ‚Soziokultur‘-Projekt immer wieder zurückgewisen und abgewertet wird: Soziokultur wird im deutschen hierarchisierenden ‚Hochkultur‘-Diskurs nicht etwa als gesellschaftlich wertvoll und deswegen besonders anerkennungswürdig angesehen, sondern im Gegenteil durch extrem schlechte Finanzierung devaluiert. Diese Frage nach Labels und Schubladen ist ein weiterer konstanter Wegmarker der künstlerischen Arbeit des Migrantpolitan.
Insgesamt war der Reflexionsraum emotional aufgeladen, weil soziale Positioniertheit und (De-)Privilegierung, gerade in solchen machtaufgeladenen Kontexten, immer mitreflektiert werden müsste – und doch oft als persönliche Kritik missverstanden wird. Das wurde für mich noch deutlicher in den darauffolgenden informellen Gesprächen, die meiner Einschätzung nach eine fortwährende Praxis der Reflexion (durch und von Betroffenen) erfordern, um die von allen Seiten gewünschte machtkritische und diskriminierungssensible künstlerische Zusammenarbeit von und mit Menschen, deren Leben von Migrations- und Grenzregimen bestimmt wird, herzustellen.
In Erinnerung bleiben zwei volle Festtage und die beinahe familiäre Strukturen, die, diskursiv wertvoll und konstruktiv, eine außerordentliche ästhetische Erfahrung dar- und herstellten.
Azadeh Sharifi ist Theater- und Performancewissenschaftlerin und vertritt aktuell die Professur für Theorie und Geschichte des Theaters in der Lehre. Sie war Gastprofessorin im Institut für Theaterwissenschaft an der FU Berlin, DAAD-Visiting Assistant Professor an der University of Toronto und Gastprofessorin an der Universität der Künste (UdK) Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind (post)koloniale und (post)migrantische Theater und ihre Geschichte, zeitgenössische Performancekunst sowie dekoloniale und aktivistische Praktiken in theatralen Räumen.

Dr. Azadeh Sharifi beim Feedback-Brunch im Migrantpolitan