
Impulsvortrag von Dr. Sibylle Peters zur Eröffnung von [Still] Claiming Common Spaces
[Still] Claiming Common Spaces
von Sibylle Peters
„Das System bricht überall um uns herum zusammen, genau in dem Moment, in dem viele die Fähigkeit verloren haben, sich das Funktionieren eines anderen Systems vorzustellen.“
Das schrieb David Graeber 2018, zwei Jahre vor seinem viel zu frühen Tod. Er nannte das die Dead Zone of Political Imagination. Sie ist tödlich für die Demokratie, denn wer hat schon Lust und Kraft sich zu engagieren, wenn es ohnehin keine Alternative gibt. Das entstehende Vakuum kann dann schnell von rechts außen besetzt werden und wird es in der Tat – as we speak.
In ihrem neuen Buch Durchlöchert den Status Quo schlagen Michael Hirsch und Kilian Jörg vor, der Dead Zone of Imagination mit dem Ausrufen einer anderen Zone zu begegnen, der Zone à Défendre, der ZAD.
Die Zone à Défendre ist zunächst ein Sumpfgebiet im ländlichen Frankreich, auf dem ein Flughafen gebaut werden sollte. Stattdessen wird dort nun mit alternativen Lebensformen experimentiert, die von der Prämisse ausgehen, die uns allen allmählich dämmert, nämlich dass es ein Leben außerhalb von Ökosystemen auf die Dauer nicht gibt. Mit alternativen Lebensformen, die auf dem Prinzip der Commons und des Commonings beruhen, auf der Bewahrung dessen, was allen gehört und was alle zum Leben brauchen.
[Still] Claiming Common Spaces heißt uns klarzumachen, dass die Common Spaces ständig kleiner werden, dass selbst der Meeresgrund und das die Erde umgebende Weltall gerade jetzt zerstört, privatisiert und kapitalisiert werden. Dass die vermeintlichen Common Spaces, die uns ersatzweise angeboten werden, wenn wir in unsere Handys schauen, in der Tat keine sind, sondern letztlich den Interessen Weniger dienen. Dass demokratisch gewählte Regierungen ein ums andere Mal daran scheitern, die Commons zu verteidigen oder zur Verfügung zur stellen. Dass selbst die Sprache, ein Common Space, ohne den Demokratie verloren ist, heute wieder zum Battle Ground wird und Listen verbotener Wörter zirkulieren, die zu nutzen den Ausschluss aus der öffentlichen Sphäre nach sich zieht.
Dabei schlagen Hirsch und Jörg nicht vor, dass wir angesichts dessen alle zu Radikalen werden, die sich von Bäumen aus Schlachten mit Ordnungshüter*innen liefern, nein, sie schlagen vor, das Prinzip der heterotopischen temporär autonomen Zone zu übernehmen und es zu einem demokratisch legitimierten Format zu machen. Also einen demokratischen Prozess zu erfinden, der die Einrichtung von Zonen des Commonings ermöglicht, in denen mit Alternativen zum Status Quo experimentiert werden kann. Die Autoren fragen: Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn die Bundesregierung einen Weg gefunden hätte, den 30 000 jungen Leuten in Lützerath eine Mitsprache einzuräumen und Lützerath zur experimentellen Zone zu ernennen, statt es zu räumen? Mein 16-jähriger Sohn war einer der 30 000 und ich kann die Frage ganz persönlich beantworten: Es hätte uns erspart, mitanzusehen, wie junge Menschen aufgeben, wie sie depressiv werden und aufhören an die Gestaltbarkeit von Alternativen zu glauben.
Der Vorschlag aus dem neuen Buch von Hirsch und Kilian, den Status Quo zu durchlöchern, hat mit dem Bündnis internationaler Produktionshäuser, dessen 10-jähriges Bestehen wir heute markieren, nun weit mehr zu tun, als nur die gemeinsame Orientierung auf die Commons. Wesentlich zur Entwicklung und Verteidigung der ZAD haben nämlich die Künstler*innen Jay Jordan und Isabella Fremaux vom Institute of Insurrectionary Imagination beigetragen, Künstler*innen, die über 20 Jahre lang immer wieder hier auf Kampnagel und in anderen der vernetzten Produktionshäuser zu Gast waren. Und nicht nur um etwas zu präsentieren, sondern vor allem, um gemeinsam mit lokalen Aktivist*innen über Kunst und Permaculture nachzudenken oder Fahrräder zu bauen, mit der Beziehung von Kunst und Aktivismus zu experimentieren und Aktionen im öffentlichen Raum zu machen. Tausende von uns haben auf diese Weise von ihnen und mit ihnen gelernt, und die beiden hatten, nicht zuletzt dank der internationalen Produktionshäuser eine Möglichkeit, ihre Arbeit fortzusetzen.
Die Zone à Défendre selbst steht also in Beziehung zu all jenen kleineren, alternativen Zonen, die durch die Arbeit der Künstler*innen der freien Szene und das Bündnis der Produktionshäuser ständig überall eröffnet werden – in Proberäumen, auf Bühnen und in anderen öffentlichen Räumen. Temporäre alternative Zonen, die von den Künstler*innen der freien Szene ständig genutzt werden, um gemeinsam mit dem Publikum den Status Quo zu befragen, zu durchlöchern und die Dead Zone of Imagination in Schach zu halten. Zonen, die heute in Berlin, NRW und bundesweit von Kürzungen betroffen sind, die an das Defunding zentraler demokratischer Diskursorte und -macher*innen erinnern, wie es gegenwärtig auch in den USA geschieht. Zonen à Défendre also auch in diesem Sinne.
Wären wir diese Woche nicht hier in Hamburg auf Kampnagel, sondern in Düsseldorf, Dresden, Berlin, Essen oder Frankfurt, dann könnten wir uns im HAU mit künstlerischen Positionen von feministischer Solidarität in Osteuropa befassen, wir könnten in Düsseldorf am FFT an einem 30stündigen Theaterfest teilnehmen, das die ursprüngliche Verwandtschaft zwischen Theater und Demokratie in der griechischen Antike untersucht. Im tanzhaus nrw könnten wir gemeinsam mit den Teilnehmer*innen der Residenz für Digital Dance Creators erforschen, welche Rolle Tanz im Internet und in sozialen Medien – zentralen Schauplätzen gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse – als künstlerische Ausdrucksform sowie als Mittel sozial-politischer Teilhabe spielt. In Frankfurt wären wir zu Besuch im Klassenraum, einem braver space, der uns Auswege aus dem in Deutschland immer noch massiv wirksamen Klassismus aufzeigt. In Essen wird zugleich ein Kongress für den Sommer vorbereitet, der vorschlägt, dem berühmten von Shell erfundenen Fußabdruck den Handabdruck entgegenzusetzen, der mit einbezieht, wie wir kreative Wege in ein neues klimagerechtes Leben finden. Im Festspielhaus HELLERAU findet gerade die 32. Ausgabe der Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik statt, die unter dem Zeichen dramatischer globaler Umbrüche steht, und in der Reihe Kunst und Begegnungen, die vom Bündnis finanziert wird, steht auch einiges an, in HELLERAU zum Beispiel ein Transgenerationales Festival und hier auf Kampnagel das 10-jährige Jubiläum eines der unwahrscheinlichsten Orte der Stadt Hamburg, des wunderbaren Migrantpolitan.
Diese zufällige Zusammenstellung aus dem aktuellen Programmüberblick hat System: In den Programmen der internationalen Produktionshäuser werden ganz gezielt Common Spaces erweitert und geschaffen, wird Demokratie gelebt und erarbeitet und zwar in einer Dimension, die vom rechts und links der parlamentarischen Realitäten nicht abgedeckt wird, die uns alle gleichermaßen angeht:
Demokratie, so hat Jacques Derrida es einmal formuliert, ist immer im Kommen. Sie ist so lange Demokratie wie wir danach streben, mehr Demokratie zu wagen, wie es Willy Brandt in den 1970ern gefordert hat. Denn zwangsläufig sind nie alle vertreten in unseren politischen Vertretungen, nie kann Repräsentation ohne Misrepresentation funktionieren, und deshalb müssen wir immer dafür kämpfen, die Common Spaces zu erweitern, bis wir die Stimmen derer hören, die sich nicht vertreten fühlen und die nicht vertreten sind. Junge und neu dazu gekommene, Menschen aller Klassen, menschliche und nicht-menschliche Wesen.
In einer so beängstigenden Situation wie der heutigen, in der überall Demokratien im Sterben zu liegen scheinen und Common Spaces zerstört werden, und Feinde der Demokratie auch bei uns immer stärker werden, werden wir leicht in eine Position der Verteidigung gedrängt. Und das ist ein Problem, denn eine bestehende Demokratie lediglich zu verteidigen, reicht gerade nicht. Ein Festhalten an einem bestimmten Status Quo von Demokratie führt ebenfalls zu Zensur, zu Ausschluss und Gewalt, und begünstigt so letztlich die Feinde der Demokratie. Demokratie ist nur Demokratie, solange sie im Kommen ist, solange sie sich selbst befragt und den Status Quo durchlöchert. Oder in der Sprache des Fußballs: Demokratie muss nach vorne verteidigt werden. Und wir alle wissen, was das heißt: wir müssen nach hinten aufmachen und verletzlich bleiben, und das fällt in Zeiten wie diesen schwer. Und doch, genauso ist es nun mal. Courage, courage! Wer nicht nach vorne spielt, kann nicht gewinnen.
Und wie machen wir das nun?
Die gute Nachricht: Wir sind nicht hilflos. Wir sind nicht eingeschüchtert und auch nicht folgsam. Wir wissen, wie man geschickt und überraschend aus der Tiefe des Raums, des Common Spaces, nach vorne spielt.
Vergangene Woche habe ich in Malmö eine Dissertation in Künstlerischer Forschung zu Theater und Demokratie abgenommen. Dabei haben wir darüber diskutiert, inwiefern die Beziehung von Theater und Demokratie der Kunstform immer schon inhärent ist, und auch über einen wichtigen Paradigmenwechsel im politischen Theater der letzten 100 Jahre, der – wie ich meine - im Claiming Common Spaces des Bündnisses internationaler Produktionshäuser in besonderer Weise verkörpert wird:
Anders als noch zu Zeiten von Brecht und Boal, versteht sich freies Theater im Hinblick auf Demokratie nicht mehr in erster Linie als Erziehungsanstalt. Stattdessen geht es in den Handlungsspielräumen des freien Theaters heute um Gesellschaftsspiele, in denen – und ich zitiere aus dem Programm des Bündnisses: „Szenarien des Zusammenlebens für die Zukunft unserer Gesellschaften erprobt werden.“ In der Tat entwickelt und erprobt freies Theater heute ganz konkret demokratische Institutionen von morgen, wie beispielsweise den Klimarechnungshof in Wien oder das Kinderwahlbüro im FUNDUS Forschungstheater. Freies Theater will Brutstätte einer Demokratie von morgen sein. Nicht mehr und nicht weniger.
Fördermillionen für die freien darstellenden Künste waren und sind deshalb eine gute, eine verdammt wichtige Investition, die gerade jetzt nicht gekürzt werden darf. Denn hier wird ein vielstimmiges und verteiltes Wissen darüber gefunden, gepflegt und neu hervorgebracht, dass und wie Demokratie – mit den vielfältigen Mitteln des Theaters, der Teilhabe und der Versammlung – stetig weiterentwickelt werden kann. Ein Wissen, das die 30 000 Menschen, die in Deutschland in den freien darstellenden Künsten arbeiten, teilen und weiter teilen wollen.
Wir sind also nicht hilflos, wir haben uns zumindest in dieser Hinsicht – vielleicht überraschender Weise – gut vorbereitet auf schwierige Zeiten, denn wir haben in diesem Land eine freie Theaterschaffende auf 3000 Bürger*innen. Und sie sind gut ausgebildet, vernetzt, motiviert und am Start - nicht zuletzt dank der politischen Entscheidung, den freien darstellenden Künsten solidarisch durch die Corona-Jahre beizustehen. Nicht zuletzt durch die kontinuierliche Arbeit der internationalen Produktionshäuser und vieler anderer wichtiger Vernetzungen, die in den letzten Jahren endlich stattfinden konnten.
So kann abschließend die Forderung an die Politik auf einer Veranstaltung wie dieser nur lauten: Put us to use! Nehmt die Kürzungen in Berlin, NRW, im Bundeshaushalt, überall, zurück und tut genau das Gegenteil. Seht, was ihr in uns habt. Vervielfacht die Förderung für freies Theater – auf allen Ebenen und vor allem auch auf Bundesebene. Wir sind da, wir sind ready. Lasst uns arbeiten, uns alle, überall in der Republik, auf großen Bühnen und an Straßenecken, lasst uns den Status Quo durchlöchern und die Demokratie nach vorne verteidigen. Lasst uns Common Spaces erweitern und vervielfältigen. Jetzt. Gerade jetzt. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Wir setzen auf Euch.
Herzlichen Glückwunsch zu 10 Jahre Bündnis internationaler Produktionshäuser.
Still Claiming Common Spaces - Jetzt geht’s erst richtig los.